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3 Minuten Lesezeit (653 Worte)

Gendermedizin: großer Einfluss der kleinen Unterschiede

gendermedizin

Gendermedizin behandelt die kleinen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sogar Leben retten können. In Deutschland ist diese Disziplin noch jung. Obwohl Fachgesellschaften und Ärztekammern großes Interesse zeigen, wird die geschlechtsspezifische Medizin häufig mit Frauengesundheit und Frauenkarriere verwechselt. Da bleibt das Interesse von Männern oft aus. Doch Gendermedizin ist keinesfalls ein reines Frauenprojekt.​ 

Gendermediziner untersuchen die Einflüsse des Geschlechts auf Behandlungsmethoden und Gesundheit. Das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) und die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM) wollen das ändern. Wir haben mit Dr. Sabine Oertelt-Prigione gesprochen. Sie ist Internistin und hat mehrere Jahre in Mailand, London und Kalifornien studiert und zu Geschlechtsunterschieden geforscht. Als Genderspezialistin und Public-Health-Expertin leitet Sie an der Charité die Nachwuchsgruppe „Gender in Prävention und Implementierungsforschung", hält deutschlandweit Vorträge zum Thema, führt Studien durch und berät Unternehmen. 

Warum wird erst seit Kurzem die Wichtigkeit der Gendermedizin erkannt?​

Dr. Oertelt-Prigione: Jahrzehntelang gab es in medizinischer Hinsicht keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern. Erste Anzeichen, die dieser Annahme widersprachen, kamen Ende der 90er Jahre auf, als in den USA auffiel, dass vor allem bei Medikamenten gegen Herz-Kreislaufbeschwerden deutlich unterschiedliche Nebenwirkungen bei Frauen und Männern auftraten. Im Anschluss deckte eine umfangreiche Studie zudem auf, dass für Frauen unter 60 Jahren das Risiko an einem Herzinfarkt zu sterben höher ist als bei Männern. Durch diese Studie wurde der geschlechtsspezifischen Medizin mehr Aufmerksamkeit zugesprochen und die Wichtigkeit der Forschung in diesem Bereich erkannt.

Worin liegen die größten medizinischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und welche Folgen haben sie?​

Dr. Oertelt-Prigione: Männer und Frauen unterscheiden sich beispielsweise in der Verteilung und dem Anteil von Körperfett. Diese Einsicht hat großen Einfluss auf die Dosierung von Medikamenten. Im Medizinstudium und in der Weiterbildung werden die Symptome gelehrt, die bei den meisten Patienten auftreten. Wenn Patienten also Symptome einer Krankheit zeigen, die gewohnheitsmäßig dem anderen Geschlecht zugeschrieben wird, kann es gefährlich werden. Anzeichen für einen Herzinfarkt scheinen allgemein bekannt: Brustschmerzen, Taubheitsgefühle und Übelkeit und meistens bei Männern auftretend. Bei Frauen können Anzeichen für einen Herzinfarkt aber auch Rückenschmerzen oder Schmerzen im Oberbauch kombiniert mit Übelkeit sein. Die Tragweite dieser Symptome wird im entscheidenden Moment oft nicht realisiert und eine Behandlung zu spät aufgenommen. Depressionen werden ihrer Häufigkeit nach eher Frauen zugeschrieben. Antriebslosigkeit, Ängste und Schlaflosigkeit gelten hier als typische Symptome. Bei Männern kann sich eine Depression aber auch in aggressivem Verhalten, erhöhtem Alkoholkonsum und Ruhelosigkeit ausdrücken. Ein allgemeines Bewusstsein für geschlechtsspezifische Medizin kann in vielen Fällen Leben retten!

Welchen Einfluss hat die Gendermedizin auf die Lehre?​

Dr. Oertelt-Prigione: In Wien und Innsbruck ist Gendermedizin eine Pflichtveranstaltung im Medizinstudium und auch in der Ausbildung werden hier Genderaspekte behandelt. In Deutschland geht die Entwicklung eher langsam voran: In Hannover, Münster und Ulm gibt es Gendermedizin als Wahlfach. Die Charité bietet als einzige Einrichtung in Deutschland Gendermedizin als Pflichtfach im Medizinstudium an. Geschlechtsspezifische Medizin ist ein Querschnittsthema, deswegen gibt es bei uns an der Charité auch eine Beauftragte, die in Absprache mit den Dozenten aller Fachbereiche dafür sorgt, dass Gendermedizin in allen Vorlesungen eine Rolle spielt.

Wie können sich Mediziner, die sich für die Geschlechterforschung interessieren, weiterbilden?​​

Dr. Oertelt-Prigione: Als erstes zählt die Neugier: Wenn Sie sich als Ärztin oder Arzt für die Gendermedizin interessieren, dann nur Mut! Der Wille zur Veränderung und ein Bewusstsein für die Thematik hängen immer an der Initiative von Einzelnen! Die DGesGM bietet regelmäßig Fortbildungen an; über die Charité können Sie einen kostenlosen E-Learning Kurs absolvieren, nicht zu vergessen die umfangreiche Fachliteratur. Schauen Sie genau auf Ihre eigenen Patienten und entwickeln Sie einen Blick für die Disziplin. Wenn Sie die Daten von ihren männlichen und weiblichen Patienten vergleichen, werden Ihnen mit Sicherheit Unterschiede auffallen.

Kleine Veränderungen, große Wirkung

Das Wissen um kleine medizinische Unterschiede kann Leben retten. Dieses Bewusstsein muss im Gesundheitswesen und in der Bevölkerung ankommen und die geschlechtsspezifische Forschung in allen Fachbereichen vorangetrieben werden. „Dabei wird es keine grundlegend unterschiedlichen Behandlungen für Männer und Frauen geben. Eine angepasste Medikation und Berücksichtigung in den therapeutischen Leitlinien kann schon viel bewirken", prognostiziert Dr. Oertelt-Prigione.

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